Donnerstag, 8. Januar 2015

Vor genau 13 Jahren

Hamburger Abendblatt 8.1.2002

Islam - sind wir zu blauäugig?


              Der Orientalist Hans-Peter Raddatz warnt vor
              unkritischer Toleranz im Dialog mit Muslimen. Das
              Abendblatt stellt seine provokanten Thesen zur
              Diskussion.
 

              München - In den vergangenen drei Jahrzehnten hat
              sich eine Sonderform der Kommunikation gebildet, die
              sich "Dialog mit dem Islam" nennt. Spezialisten der
              Kirchen, Politik, Universitäten, Wirtschaft sowie
              zahlreichen anderen Instituten finden hier ein stabiles
              Auskommen. Einzige Voraussetzung für garantierten
              Erfolg war bisher das unbeirrte Festhalten an einigen
              wenigen Dogmen: "Der Islam ist tolerant -
              Fundamentalismus ist nicht Islam - Islam bedeutet
              Frieden". Dabei wird behauptet, dass es "den Islam"
              auf Grund seiner Vielfalt eigentlich nicht gebe, "der
              Islam" dennoch geradezu monolithisch tolerant sei.

              Als die durch Osama bin Ladens
              Selbstmord-Terroristen gekaperten Flugzeuge in die
              Türme des World Trade Center einschlugen und
              Tausende Unschuldiger unter sich begruben, schienen
              die Ideen des Friedens und der Toleranz für einen
              Moment aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.



              Nur wenige Tage nach dem 11. September bildete
              sich eine Solidaritätsfront für den islamistischen
              Zentralrat der Muslime, der den bislang favorisierten
              Islamistenkader der Milli Görüsh ablöste und nicht
              wenigen die Frage aufdrängte, wie auf diese Weise
              eigentlich die Mehrheitsinteressen der "gemäßigten
              Muslime" zu Wort kommen sollten. Bundespräsident
              Johannes Rau, Innenminister Otto Schily, Kardinal Karl
              Lehmann, EKD-Präses Manfred Kock, sogar Paul
              Spiegel, der Zentralratspräsident der Juden in
              Deutschland, und viele andere rückten entschlossen
              zusammen und erneuerten das Dialog-Credo lauter als
              je zuvor: Kanzler Schröder brachte dieses Credo auf
              einen knappen Nenner: "Die Anschläge haben - das
              wissen wir - nichts, aber auch gar nichts mit Religion
              zu tun."
              Wirklich nicht? Wichtigste Vertreter des Islam
              scheinen da ganz anderer Meinung zu sein. Abgesehen
              davon, dass schon im Jahre 1996 die Religionsbehörde
              von Medina den Dialog mit Nichtmuslimen mit
              Glaubensabfall gleichsetzte, stellte M. Tantawi,
              Präsident der Azhar-Universität in Kairo, nach dem
              Anschlag fest, dass auch Fundamentalisten als
              Angehörige des Islam gälten, weil sie fest auf dem
              Boden des Koran stünden. Zudem bestätigte Scheich
              Qaradhawi, Rechtsautorität am Golf, dass der
              Selbstmord im Einsatz für den Islam als
              verdienstvolles Verhalten einzustufen sei, das zum
              direkten Übergang ins Paradies berechtige. Der Kampf
              für die Interessen und die Ausbreitung des Islam
              (Dschihad) gehöre zu den vornehmsten Pflichten des
              Gläubigen, weil er einen Dienst an der Gemeinschaft
              darstelle, dem sich kein gläubiger Muslim entziehen
              könne. Mit den Wahrnehmungen des Dialogs von
              Frieden und Toleranz haben diese Feststellungen
              wenig zu tun.
              Wie ist dann die erkennbare Kluft zwischen
              islamischer Wirklichkeit und dialogischer Wunschwelt
              zu deuten? Welcher Art von Vernunft folgen die
              Vertreter eines Dialogs, der offensichtlich so wenig
              Kenntnis vom realen Kontext und Selbstbild der
              Muslime nehmen will?
              Ein Beispiel für die hier immer wieder zu
              beobachtende Vorgehensweise betrifft die Begründung
              für die zentrale Dialogfiktion der islamischen Toleranz.
              In monotoner Wiederholung werden hier im
              Wesentlichen drei Aspekte herangezogen:

                 1. Im Kalifat von Cordoba sei eine kulturelle
              Hochblüte im Zusammenleben von Muslimen, Christen
              und Juden erreicht worden.

                 2. Der Schutzvertrag für die christlich/jüdischen
              Minderheiten (Dhimma) habe diesen Toleranz und
              Eigenständigkeit gesichert.

                 3. Allein der koranische Satz, nach dem es "keinen
              Zwang im Glauben" gebe (2/256), bestätige
              unzweifelhaft die Glaubensfreiheit und Toleranz im
              Islam.
              Aussage 1 trifft in dem Sinne zu, dass einige wenige
              der andalusischen Kalifen - vornehmlich im
              10. Jahrhundert - als tolerant gelten können,
              allerdings die "Tradition" der Christenverfolgung nur
              entsprechend kurzfristig unterbrochen haben, die
              durch die nachfolgenden Almohaden aus Nordafrika
              umso brutaler aufgegriffen wurde.

              Aussage 2 trifft in dem Sinne zu, dass Christen und
              Juden als "Schriftbesitzer" eine Sonderbehandlung
              erfahren, indem sie nicht wie die Heiden sofort zu
              töten sind. Dies hinderte in der Geschichte nicht an
              zahlreichen Benachteiligungen und Repressalien,
              welche die Angehörigen beider
              Glaubensgemeinschaften drastisch reduzierten und
              sich bis in unsere Tage mit regelrechten Massakern an
              Christen in Sudan, Nigeria und Indonesien fortsetzten.

              Aussage 3 trifft in dem Sinne zu, dass "kein Zwang
              im Glauben" eine Aussage des Koran ist und daher nur
              für Muslime gilt, die ihren Glauben den Regeln
              entsprechend, das heißt "uneingeschränkt", ausüben.
              Wer allerdings seinen Glauben verlassen will, riskiert im
              Islam sein Leben.  
               Der Kampf für die Ausbreitung des Islam gehört
              zu den vornehmsten Pflichten des Gläubigen, weil
                er einen Dienst an der Gemeinschaft darstellt.  
              Das Auffallende an dieser Art von "Argumentation"
              ist die willkürliche Auswahl der "Beweise" und ihre
              fehlende Verbindung mit der realen Geschichte sowie -
              und dies ist entscheidend - mit dem Selbstverständnis
              der Muslime. Diese leben aus ihrer Geschichte, die
              immer auch Heilsgeschichte ist. Der Koran und sein
              Verkünder Muhammad, das Wort Allahs und der durch
              ihn geforderte Dschihad, der Kampf gegen die
              Ungläubigen, sind ihnen unmittelbar gegenwärtig und
              vom Propheten selbst vorgelebt worden. Nicht zuletzt
              hatte dieser in den 20er-Jahren des 7. Jahrhunderts
              unbequeme Kritiker durch Auftragsmörder beseitigen
              und in einem beispiellosen Massenmord zwischen
              700 und 900 Juden in Medina umbringen lassen. Da
              der Koran das unveränderbare Gesetz und Muhammad
              das unübersteigbare Vorbild der Muslime ist, bildet der
              Dschihad in diesem konkreten Sinne auch heute, wie
              Scheich Qaradhawi und viele seiner Kollegen weltweit
              nicht müde werden zu bestätigen, die unausweichliche
              Pflicht eines jeden Gläubigen.
              Gerade diesen für die Diskussion in der deutschen
              Gesellschaft wesentlichen Aspekt blenden die
              führenden Dialogvertreter gezielt aus. Unlängst ließ die
              "Fachstelle Dialog" der Deutschen Bischofskonferenz
              an alle Abgeordnete des Deutschen Bundestages eine
              Darstellung über "Islam und Gewalt" verteilen, in der
              ein weiterer Stereotyp des Dialogs noch einmal
              ausführlich wiederholt wird. Es handelt sich hier um die
              seit Jahrzehnten tief eingeschliffene Floskel, derzufolge
              der Dschihad eine "Anstrengung im Glauben" darstelle,
              womit allerdings - insbesondere in den Augen der
              Muslime - die Grenzen zum Absurden überschritten
              werden.
              Nach den Koran-Kommentaren und der Tradition
              des Propheten (Hadith) bedeutet Dschihad in
              allererster Linie der Kampf gegen die Ungläubigen und
              damit für die Ausbreitung des Islam. Der Löwenanteil
              der Aussagen ruft zu Aggression und zum Teil zur
              Tötung der Nichtmuslime auf und behandelt vor allem
              Fragen der Beuteverteilung. Zur weiteren
              Verschleierung der Tatsachen zieht der Dialog die
              Unterscheidung zwischen dem "großen" und dem
              "kleinen" Dschihad heran, wobei Ersterer sich auf den
              islamisch-mystischen Sprachgebrauch im Sinne einer
              Anstrengung um die "Läuterung der Seele" bezieht.
              Letzterer bedeutet den eigentlichen Kampf, der in
              unserer Zeit außer Gebrauch gekommen sein und im
              Grunde keine Rolle mehr spielen soll.  
               Es ist an der Zeit, die Kompetenz des Dialogs und
                  der deutschen Islampolitik insgesamt einer
                     genaueren Prüfung zu unterziehen.  
              Hier ist interessant zu wissen, dass auch Sayyid
              Qutb, der von Nasser im Jahre 1956 hingerichtete
              Radikalmuslim und Vorbildgestalt der radikalen
              Muslimbruderschaft, den "großen Dschihad" durchaus
              kennt und ihn als Läuterung der Seele im Sinne einer
              notwendigen, inneren Vorbereitung auf den
              kompromisslosen Kampf gegen die Ungläubigen
              fordert. Interessant ist dabei, dass es diese
              Muslimbrüder sind, die nun von den gesellschaftlich
              Verantwortlichen hofiert und gefördert werden. Denn
              nach dem Islamistenkader der türkischen
              Milli-Görüsh-Gemeinschaft ist es jetzt der "Zentralrat
              der Muslime in Deutschland", der sich der besonderen
              Gunst des deutschen Islamdialogs erfreut. Dabei ist zu
              berücksichtigen, dass die islamischen Organisationen
              in Deutschland weniger als ein Prozent aller in
              Deutschland lebenden Muslime vertreten. Der
              Zentralrat steht unter Leitung von Nadeem Elyas, dem
              nicht nur die Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern
              nachgesagt wird, sondern der auch Vorsitzender der
              saudisch finanzierten Bilal-Moschee in Aachen ist, die
              unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.
              Indem also wichtigste Repräsentanten der
              deutschen Gesellschaft den Islamismus in Deutschland
              fördern, schaffen sie genau den Schutzraum für die
              Entwicklung und Vorbereitung islamischer Gewalt, wie
              er durch die Ermittlungen nach dem Terroranschlag zu
              Tage getreten ist. An der Ideologie der zwanghaften
              Islamtoleranz hat dies zunächst nichts geändert, so
              dass immer mehr Türken angesichts des islamistischen
              - und arabischen - Übergewichts ihre Religionsfreiheit
              mit Recht gefährdet sehen. Auch die Juden in
              Deutschland zeigen sich besorgt, weil sie hinter der
              stereotypen Radikalisierung des Dialogs einen neuen
              Antisemitismus befürchten.
              Nicht zuletzt handelte es sich beim Verteiler der
              bischöflichen Gewaltstudie an das Parlament um die
              Konrad-Adenauer-Stiftung, deren türkischer Ableger
              in Istanbul vor wenigen Wochen unter Anklage gestellt
              wurde. Ihr wirft der Generalanwalt der
              Staatssicherheitsbehörden "islamistische" und damit
              "staatsfeindliche" Umtriebe vor. Aus dem gleichen
              Grunde hatte Staatspräsident Ecevit Kanzler Schröder
              bereits 2000 um die Schließung des Deutschen
              Orient-Instituts in Hamburg gebeten, weil dessen
              Leiter sich seit Jahren für islamistische und
              "antitürkische" Kräfte einsetze. Letzterer hatte nicht
              nur ein Einreiseverbot in die Türkei zu überstehen,
              sondern irritierte schon seit längerem seine Umgebung
              mit Begriffen wie "Menschrechtsarroganz", die
              westliche Gesprächspartner im Umgang mit dem Islam
              zu vermeiden hätten.
              Im Interesse einer demokratischen Mitsprache
              scheint es an der Zeit, nicht nur diese
              Zusammenhänge, sondern die Kompetenz des Dialogs
              und der deutschen Islampolitik insgesamt einer
              genaueren Prüfung zu unterziehen.
              Von Hans-Peter Raddatz erschienen: Von Gott zu
              Allah? Christentum und Islam in der liberalen
              Fortschrittsgesellschaft. Herbig Verlag, München 2001,
              528 Seiten, 68 Mark.

                 Raddatz ist auch Co-Autor des internationalen
              Standardwerkes "Encyclopaedia of Islam".

                © 8.1.2002, Ein Service vom Hamburger Abendblatt