Samstag, 24. November 2007

Ohne emotionale Verankerung, ohne Werte und Regeln

Wenn wieder mal ein Kind von den eigenen Eltern auf die eine oder andere Art zu Tode gefoltert wurde, ist die "Betroffenheit" groß. Wie konnte so etwas nur passieren?

Anlässlich des Todes der in Schwerin unlängst verhungerten kleinen Lea-Sophie (die Tatsache, dass den meisten dieser Kinder prätentiöse Vornamen gegeben wurden, wäre allein schon eine Studie wert) veranlasste Spiegel Online eine Chronologie des Grauens aufzustellen.

Februar 2004: Im schleswig-holsteinischen Hanerau-Hademarschen verhungert ein elf Monate altes Baby... Die mit im Haus lebenden Großeltern haben vom bedrohlichen Zustand ihres Enkelkindes nichts mitbekommen...

Juni 2004: In der Kühltruhe der Eltern entdecken Ermittler die Leiche des sechsjährigen Dennis aus Cottbus. Die Mutter hatte die Leiche zweieinhalb Jahre lang in der Kühltruhe versteckt. Sie hatte noch weitere zehn Kinder...

Januar 2005: Bei einer Zwangsräumung in Düsseldorf kommt der Tod der dreijährigen Pervin ans Licht. Sie war bereits im Oktober 2002 verhungert. Die Mutter gesteht später, die Tochter nach ihrem Tod zerstückelt und zwei Jahre lang auf dem Balkon gelagert zu haben.

März 2005: In Hamburg erstickt die siebenjährige Jessica qualvoll an Erbrochenem. Das extrem unterernährte Mädchen war von ihren Eltern in einem dunklen, ungeheizten Raum eingesperrt worden. Dort hatte es aus Hunger die Tapete von den Wänden gekratzt und Teppichflusen gegessen...

Frühjahr 2006: Eingewickelt in eine Mülltüte entdecken Ermittler die stark verweste Leiche des zweijährigen Benjamin in Schlagenthin (Sachsen-Anhalt). Der Junge war ein Jahr zuvor an Unterernährung gestorben...

Dezember 2006: Der knapp zehn Monate alte Leon aus Sömmerda in Thüringen verdurstet, weil seine Mutter ihn vier Tage lang allein in der Wohnung zurückgelassen hat... Die zweijährige Schwester des Jungen kann in letzter Minute gerettet werden.

Frühjahr 2007: Im hessischen Ort Bromskirchen verhungert und verdurstet die 14 Monate alte Jacqueline. Das Kind wiegt vor ihrem Tod nur noch sechs Kilogramm...
Und der Spiegel weiß auch, woran das liegt: "Häufig spielen sich solche Dramen in schwierigen sozialen Verhältnissen ab, die Eltern sind oft überfordert."

Häufig. Das heißt also nicht immer. Jetzt warten wir nur noch auf die Familie des Sparkassenzweigstellenleiters mit nicht berufstätiger Gattin, in der ein Kind deart vom Leben zum Tod befördert wird.

Auch Lea-Sophies Familienverhältnisse können als "schwierig" bezeichnet werden.:
Im Fall der in Schwerin verhungerten Lea-Sophie wächst der Druck auf das Jugendamt. Der «Bild am Sonntag» sagten die Großeltern der Fünfjährigen, sie hätten sich bereits vor einem Jahr an die Behörde gewandt. Sie hätten bemerkt, dass ihre Tochter mit der Erziehung überfordert gewesen sei, erzählten Gertrud und Norbert G. der «Bild am Sonntag».
Die Eltern waren also überfordert mit der Erziehung. Wohl gemerkt, nicht damit, die Intelligenz des Kindes zu fördern oder seine sportlichen Leistungen. Nein, sie waren ÜBERFORDERT DAMIT, DEM KIND NAHRUNG UND ZU TRINKEN ZU GEBEN und das, während sie ihren Hunden gegenüber offenbar keinen derartigen Block empfanden.

Und wenn Blätter wie Bild samt Hämorrhoide BamS, die immer noch ihr Ohr brechreizindizierend nah am Volke haben und vor nicht allzu langer Zeit in solchen Fällen noch nach dem Henker gerufen hätten, ebenfalls in diese Verständnis-Kakophonie einstimmen, wenn sich Bild/BamS und Spiegel, Autobahnstrich und exklusiver Saunaclub der deutschen Meinung, einig sind, stinkt es irgendwo.

Nicht etwa die Eltern, die das Kind über Monate zu Tode gefoltert haben, sind schuld, nicht die Großeltern, die ihr Bisschen bürgerliche Wohlanständigkeit nicht dadurch aufs Spiel setzen wollten, dass die Behörden WIRKLICH etwas zugunsten ihres Enkelkindes unternahmen, nein, nicht sie, das Jugendamt ist schuld. Der Staat. Alle und jeder und damit niemand.

Das erinnert mich, ich bedaure es selbst, an die Chronologen der Hitler-Tagebücher, die in jedem zivilisierten Land spätestens am 5. Mai 1983 zur Tür hinaus gelacht worden wären. Über einen ähnlich gelagerten Fall vor über zwei Jahren in Hamburg wussten sie zu berichten:
Fälle wie Jessica, abgemagert bis auf die Knochen und erstickt an ihrem Erbrochenen ... sind extrem, aber zum Glück auch extrem selten. Doch vernachlässigte Kinder, der Kinderschutzbund schätzt ihre Zahl auf bundesweit 100.000, kommen nicht nur in sozial schwachen Milieus vor. Auch der Nachwuchs aus vermeintlich geborgenen Mittelschichtfamilien ist davor nicht gefeit.

[...]
Dort allerdings nehme die Vernachlässigung andere Formen an, sagt Abelmann-Vollmer [vom Kinderschutzbund]: Nicht, dass die Kinder hungrig in die Schule geschickt würden oder mit Sommerkleidung über den Winter kommen müssten, so die Kinderschützerin. Die Probleme lägen im psychologischen Bereichen, auf emotionaler Ebene.

Ein klassischer Fall: Karrierefamilien. Mutter und Vater arbeiten beide und gerne, für den Beruf nehmen sie sich immer Zeit, für die Kinder selten. Haben die karrieretüchtigen Eltern ein schlechtes Gewissen, betäuben sie es entweder durch ein Übermaß an Geschenken und Spielzeug - haben sie kein schlechtes Gewissen, passiert noch weniger. In beiden Fällen bleiben Kinder zurück, die ohne emotionale Verankerung, ohne Werte und Regeln sich selbst überlassen bleiben.
Ich will im Interesse des Schmocks, der dieses geschrieben hat, annehmen, dass er nur unbeabsichtigt zynisch ist, aber WIE gefühllos muss jemand sein, der das Schicksal des ärmsten aller armen Kinder mit dem von Kindern vergleicht, die "durch ein Übermaß an Geschenken und Spielzeug ... ohne emotionale Verankerung, ohne Werte und Regeln sich selbst überlassen bleiben". Sicher hätte Jessica, deren Kotsteine, als sie starb, einen nicht unerheblichen Prozentsatz ihres Körpergewichts ausmachten, es bevorzugt, mit Designerklamotten und ohne emotionale Verankerung, ohne Werte und Regeln, abgespeist zu werden, wenn nur eine Mahlzeit dabeigewesen wäre.